Texte

Laudatio, Familie Paul Breitkopf Preis 2013

Karin Palme
Stabil - Beweglich, Keramik (5-teilig)
35. Ostallgäuer Kunstausstellung, Künstlerhaus Marktoberdorf

Karin Palme arbeitet als Bildhauerin mit einem Werkstoff, der zunächst gerne in der angewandten Kunst angesiedelt wird. Deshalb ist es besonders schwierig, ihn der freien Kunst zugänglich zu machen: Ton bzw. Keramik.
Unabhängig von Palmes Arbeit selbst ist es der Jury mit dieser Preisvergabe gelungen, den Werkstoff Ton, der seit der Vor- und Frühgeschichte unmittelbar mit freier genauso wie mit angewandter künstlerischer Arbeit verbunden ist, wieder stärker in den Fokus der Bildenden Kunst zu rücken. Nicht nur Picasso, Max Ernst oder Mirò schufen oft mangels Kenntnissen mithilfe von ausgebildeten Meistern Reliefs und Skulpturen aus Ton und Keramik.
Das Künstlerhaus ist für diese Preisverleihung der richtige Ort. Denn 2010 fokussiert die jetzige Leiterin Maya Heckelmann in einer ihrer ersten Ausstellungen Franz Hitzlers Keramikarbeiten, die in Zusammenarbeit mit der italienischen Werkstätte San Giorgio in Albisola enstanden.
Auch Karin Palme hat enge Beziehungen zu Italien geknüpft. Auf der Suche nach ihrem Meister, wie sie sagt, wurde sie selbst als Meisterin gesehen und hat bis in die neunziger Jahre in Italien Keramik unterrichtet.
Gerade mit diesem Werkstoff arbeitende Spezialisten anders als bei den unter anderem mit Keramik arbeitenden Malern oder Bildhauern, allein in unserer Region gibt es etliche außer Franz Hitzler nenne ich Otto Scherer, Ulrike Albert, Lore Kienzl oder Angelika Waskönig müssen oft eine enge Gratwanderung zwischen angewandter und freier Kunst gehen.
Palme hat nach langer Dozententätigkeit in Italien und den USA und mangels Möglichkeiten in Deutschland, die Lehre mit dem eigenen freikünstlerischen Schaffen zu verbinden, 2011 die entscheidende Konsequenz gezogen und ist seitdem selbständig als freie Künstlerin tätig.
Wenn Sie Ihre Website konsultieren werden Sie anhand der Datierung feststellen, dass Palmes Weg immer von Einzelformen gekennzeichnet war, die sich mehr oder weniger frei kombinieren lassen. Das macht die Besonderheit ihres Werkes aus.

„Reduzieren ist oft das Schwierigste“ sagte mir Karin Palme in unserem Vorgespräch. Eigentlich meinte sie dies in einem ganz anderen Zusammenhang. Aber genau diesen Satz möchte ich ihrem Werk überschreiben.
In der hier vorgestellten Arbeit geht sie den Weg der einzelnen Skulptur-die als alleinige Form genauso stimmig ist wie in der Interaktion mit ihren „Formgeschwistern“- in extremer Konsequenz.
Egal von welcher Perspektive man sie betrachtet, es ergeben sich immer neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.
Dieses Formenkonglomerat, welches die Jury mit einem Molekülmodell assoziierte, besteht, wenn man es genau betrachtet, aus individuell geformten Stücken, die gerade dadurch ihre vermeintliche Gleichartigkeit erst auf den zweiten Blick ihre Eigenheiten entfalten und eine „Lebendigkeit“ ausstrahlen, die sie von einem wissenschaftlich ausgerichteten Modell der abstrakten Visualisierung chemischer Zusammenhänge deutlich unterscheidet.
Karin Palme lässt solche Assoziationen dennoch gerne zu, auch wenn sie bei ihr nicht im Vordergrund stehen.

Trotzdem ging zunächst auch mein erster Gedanke in die gleiche Richtung:
In der Avantgarde haben verschiedene Künstler nach den verbesserten Möglichkeiten der Mikroskopie und den von Ernst Heckels ab 1898 publizierten „Kunstformen der Natur“ festgestellt, dass ihre Maxime unter die Oberfläche der Natur zu gehen und ihre strukturellen Zusammenhänge sichtbar zu machen -letztendlich ein Grund für die Entwicklung der Abstraktion- von der Natur noch übertroffen wurde.
Palme geht nicht so sehr wie die Avantgardekünstler es vielfach taten- konzeptuell oder intellektuell an ihr Werk heran, auch wenn sie die Wirkung der Formen zunächst in verkleinerten Modellen ausprobiert, sondern beginnt mit einem sehr haptischen Zugang:

Von den Kalebassen z. B. afrikanischer Kulturen inspiriert, formt sie zunächst Tonkugeln- je nach Bedarf in unterschiedlichen Techniken- aus. Sie bildet z. B. einen „pinch pot“ wie die Amerikaner sagen, eine „Daumenschale“, die durch die Fingerbewegung zu Kugeln werden oder sie zieht eine Tonplatte über einen Luftballon. Manchmal unterstützt sie die Rundungen der grundsätzlich in Aufbautechnik gestalteten Kugeln auf der Drehscheibe.
Sie bewertet die Grundstrukturen ihrer Formen und entwickelt sie danach frei weiter. Eigentlich ein Vorgang, dessen sich die Natur ebenso bedient: wenn wir z. b. an unsere Zellentwicklung denken.
Heraus kommen freie „Grundmodelle der Natur“, wie ich sie bezeichnen möchte, die uns eben genau an Modelle visueller Wahrnehmbarkeit von Naturgesetzen erinnern ohne es wirklich zu sein.
Diese Grundformen werden bei ihr in unterschiedlichsten Kombinationen als Serie ausgearbeitet. Dabei hat Karin Palme festgestellt, dass sich einige Endrundungen zahlenmäßig leichter verbinden als andere.
Interessanterweise hat ihr eine Chemikerin, die auf Bodenforschung spezialisiert ist, mitgeteilt, dass die von ihr als „Plejaden“ betitelten Dreierkugeln der Molekülstruktur von Silicium ähneln, der Grundstoff für Tonerde.

Der Komponist Johannes Wallmann äußerte sich 1993 über molekulare Strukturen in der Musik:
Bei der Arbeit mit musikalischen Molekülen und Bausteinen machte ich die Erfahrung, dass die Beziehungen zwischen den aus den Molekülen entfalteten Elementen zu der entscheidenden Frage einer Komposition werden. Die Frage lautete folglich nicht nur, was für ein Material, sondern: welche Beziehungen bestehen zwischen
seinen Elementen, welche können daraus entfaltet werden, welche Prozesse entstehen dabei, welche Funktionen benötigen welche For-men und welche Formen ermöglichen welche Funktionen? Das sind ungeheuer interessante Fragen, denn in ihrer Beantwortung schließt sich die Gesamtidee einer Komposition, ja, eines gesamten künstlerischen Schaffens.

Was Palme bei der Preisträgerarbeit ein Anliegen war, ist die Flexibilität und Frische, sowohl der einzelnen Teile als auch des gesamten Werkes. Sie dürfen zunächst auch ruhig wie witzige kleine Wesen wirken, sagt Palme.
Ihr Anspruch ist, dass sie zuerst als Einzelskulptur optisch und auch faktisch funktionieren, aber durch das gemeinsame Interagieren anhand minimaler Berührungspunkte ihre innere Stabilität noch verstärken.

Wenn man alle oben Kriterien nicht nur von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, dann erkennt man, dass Palmes Werk „Stabil-Beweglich“ soziokulturell gesehen ein positives Grundmodell unserer humanitären Gesellschaft bilden.

Urte Ehlers, Kunsthistorikerin
Kunstvermittlung an den Pinakotheken und dem Museum Brandhorst in München